Dürrenmatt: Das Unternehmen der Wega (I) Kontext und Inhalt

 Das Unternehmen der Wega

Ein Hörspiel von Friedrich Dürrenmatt (1921-1990)

In der Vergangenheit generierte Zukunft

In der Zukunft angesiedelte Werke wie etwa solche der Science Fiction zeigen den historischen Kontext ihrer Entstehungszeit auf. So schildert etwa Jules Vernes „De la Terre à la Lune“ eine Mondlandung, wie sie sich der Autor im ausgehenden 19. Jahrhundert vorstellte. Diese Vorstellung hat mit den Gegebenheiten der realen Mondlandung im Jahre 1969 sehr wenig gemein.

Die Entstehungszeit übt in zweierlei Hinsicht Einfluss auf den Inhalt von Dürrenmatts Hörspiel aus. Zum einen wird die Venus als eine Urwelt dargestellt, die zwar extreme Bedingungen aufweist, insgesamt aber bewohnbar ist. (vgl. auch Perry Rhodan Hefte 8 und 20-24) Das war der Stand der Forschung bis in die sechziger Jahre hinein. Erst später erkannte man, dass die Venus in keiner Weise bewohnbar ist.

Laut Wikipedia besteht „die Atmosphäre der Venus [...] hauptsächlich aus Kohlendioxid. Stickstoff macht 3,5% aus. Schwefeldioxid (150 ppm), Argon (70 ppm) und Wasser (20 ppm) kommen in Spuren vor. Die Venusatmosphäre […] bewirkt am mittleren Bodenniveau einen Druck von 92 bar. Dies kommt dem Druck in gut 910 m Meerestiefe gleich.“

Zum anderen wird der in den fünfziger Jahren als politisches Konstrukt fast allgegenwärtige Ost-West-Konflikt in ein im einundzwanzigsten Jahrhundert angesiedeltes Raumfahrtzeitalter projiziert.

Ein in der Zukunft angesiedeltes Stück kann zweierlei sein: Entweder eine Prognose des Autors, wie die Zukunft, ausgehend von der Gegenwart, aussehen könnte, oder eine verschleierte Kritik an den Verhältnissen, die der Autor in seiner Gegenwart vorfindet. Der prognostische Charakter kann meines Erachtens nur unterstellt werden bei Werken, die in allernächster Zukunft spielen und in denen die gegebenen Verhältnisse ein wenig weiter gedacht werden. Aber auch solche Prognosen sind aufgrund der rasanten Entwicklung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und aufgrund der seit jeher völligen Unvorhersehbarkeit politischer Entwicklungen eher spekulativ.

Bei einer weit in der Zukunft angesiedelten Handlung entfällt der prognostische Charakter völlig. Es wäre müßig, angesichts eines so langen Zeitraums auch nur entfernt realistische Prognosen anstellen zu wollen.

Bei „Das Unternehmen der Wega“ geht es um die Kritik der Gegenwart. Das Stück ist ein Paradebeispiel für die von Dürrenmatt zwei Jahre nach der Veröffentlichung dieses Hörspiel in „Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit“ gegebene Definition der Tätigkeit des Schriftstellers. Er spricht von Eigenwelten, die der Schriftsteller schaffe und deren Material in der Gegenwart liege. Die Zukunftswelt in diesem Hörspiel zeigt diese Strategie.

Handlung

Im Rahmen einer Rückblende wird geschildert, wie eine irdische Expedition, der einige hohe Vertreter der Regierung, unter anderem der Kriegsminister und der Minister für außerirdische Gebiete angehören, mit dem Raumschiff Wega zur Venus fliegt, um mit der dortigen Regierung Kontakt aufzunehmen und die Venusbewohner als Verbündete zu gewinnen. Die Venus war ursprünglich eine Strafkolonie, in die speziell politisch unerwünschte Personen verbannt wurden. Ein Konzept dieser Art findet man auch auf Mura in der sechsten Episode der Fernsehserie „Raumpatrouille Orion (1966) sowie auf dem Planeten Gray Beast in 5 Romanen zwischen Nr. 50 und Nr. 100 (1962) der Perry Rhodan Serie.

Die Mitglieder der Expedition vertreten die Vereinigten Staaten der freien Welt, wohl eine Nachfolgeorganisation der USA. In einem Konflikt, der sich zum Krieg auszuweiten droht, stehen ihnen die Russen, also die Sowjetunion mit dem Ostblock als Verbündete, gegenüber, die ihrerseits die Venus ebenfalls als Strafkolonie genutzt haben.

Alsbald stellt man fest, dass auf der Venus in keiner Weise ein geordnetes Staatswesen herrscht, sondern dass jeder für sich lebt und mit dem Kampf ums Überleben beschäftigt ist. Somit herrscht nicht der Naturzustand aus Hobbes „Leviathan“, in dem jeder ein Recht auf alles hat und permanenter Krieg aller gegen alle herrscht, sondern eher ein zweckdienlicher Sozialismus.

Als Hauptnahrungsquelle dient den Venuskolonisten das Fleisch walähnlicher Tiere, die unter großen Strapazen gefangen werden müssen. Trotz dieser Strapazen und der unangenehmen Lebensbedingungen, unter anderem Temperaturen um die 50 Grad Celsius, fühlen sich die Bewohner insgesamt recht wohl in ihrer Abgeschiedenheit, reden gar von einem Paradies.

Für die Diplomaten von der Erde ist zu ihrer großen Überraschung und zu ihrem Entsetzen kein Ansprechpartner vorhanden. In ihrer Not ernennen sie kurzerhand ihre zufälligen Gesprächspartner zu Repräsentanten der Venusbevölkerung. Am ersten Tag ist die John Smith (telling name für den Durchschnittsbürger), der zufällig den Funkspruch von der Erde aufgefangen und beantwortet hatte, am zweiten Tag die Krankenschwester Irene. Schließlich kommt es noch zu einer Begegnung zwischen Sir Horace Wood, dem Leiter der Delegation, und seinem alten Bekannten Bonstetten, dem ehemaligen Kommissar der Venus, der als politisch unerwünschte Person verbannt worden war.

Als alle so titulierten Verhandlungen ergebnislos verlaufen, beschließt man, die Venusbewohner mittels der mitgebrachten Atombomben zu vernichten, um sie als potentielle Verbündete der anderen Seite, der Russen auszuschalten.

Innerhalb der Rahmenhandlung erklärt Dr. Mannerheim, einer der Teilnehmer der Expedition, dem Präsidenten und einer Kommission das Vorgehen der Venusexpedition. Die eigentliche Handlung wird in Form von Tonbändern eingebracht, die Mannerheim der Kommission vorspielt.

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