Literatur und Interpretation. Ein Unterrichtsvortrag mit (un)gewöhnlichen Beispielen

Der Deutschunterricht soll, so möchte ich dies formulieren, die Schüler in die Lage versetzen, sich in der Sprache Deutsch angemessen auszudrücken und die im Alltag üblichen Gebrauchstexte eigenständig zu produzieren. So übt man denn Berichte, Argumentationen, Protokolle, vielleicht auch mal Tagebucheinträge und was dergleichen Dinge mehr sind.

Noch viel interessanter wird es aber, wenn die Literatur ins Spiel kommt.

Was ist Literatur eigentlich?



Der Begriff kommt vom lateinischen littera, ae, „der Buchstabe“. Somit ist Literatur die Gesamtheit der Buchstaben, will sagen die Gesamtheit des schriftlich fixierten, des Geschriebenen, von Goethes Faust und Thomas Manns Zauberberg über den Pschyrembel1 und das BGB2 hin zum Jerry Cotton3 Roman und den Drehbüchern von Derrick4 zu den Gebrauchsanweisungen moderner Elektrogeräte.

Um Ordnung zu schaffen, verwendet man Unterteilungen wie Fachliteratur oder Notenliteratur.

Laut Wikipedia ist „die öffentliche Literaturdiskussion und -analyse [...] demgegenüber seit dem 19. Jahrhundert auf Werke ausgerichtet, denen besondere Bedeutung als Kunst zugesprochen werden kann, und die man im selben Moment von Trivialliteratur und ähnlichen Werken ohne vergleichbare „literarische“, sprich künstlerische Qualität, abgrenzt.“ Die Literatur zähle zu den Gattungen der Kunst, heißt es weiter. Der der „öffentlichen Literaturdiskussion“ zugemessene Begriff ist auch der des Deutschunterrichts. Nur die alberne Abgrenzung von der „Trivialliteratur“ ist heute meines Erachtens nicht mehr zeitgemäß. Da bin ich nicht allein; in den Lehrerzimmern und in den Uni-Seminaren haben die Nerds5 längst die alten Bildungsbürger abgelöst, der verbreitete vorurteilslose Umgang mit der Unterhaltungsliteratur geht sicher auch auf den Einfluss der hierzulande auch fleißig betriebenen Anglistik und Amerikanistik zurück, die da keine Unterschiede machen.

Als Definition halten wir fest:

Literatur im Sinne des Deutschunterrichtes:

Meist fiktionale6 Texte, oft mit (berechtigtem oder unberechtigtem) künstlerischem Anspruch.

Literarische Texte spielen mitunter in Zukunftswelten, die eine eigene topographische Nomenklatur haben:

"Eine Stunde später hatten sie die Westküste der afranischen Küste erreicht. Noch immer scheute Matt davor zurück, die PLASMA mit Volllast fliegen zu lassen; zu frisch war die Erinnerung daran, wie er bei Smythes Verfolgung die Kühlrippen überhitzt hatte und eine Zwangspause in einem See einlegen musste, um sie wieder abzukühlen. Sie waren auf einer Flughöhe von zehntausend Metern unterwegs. Unter ihnen erstreckte sich das weite Blau des Atlantischen Ozeans - beziehungsweise der Atlanta-See, wie sie in der neuen Zeit genannt wurde."

Ian Rolf Hill, "Amraka", Maddrax Band 600, 2023, Bastei

der Atlanta-See“ = Genitiv Singular, weil „See“ hier weiblich ist

Es wäre durchaus eine Herausforderung, das DaF-Schülern zu erklären.

In literarischen Texten werden manchmal seltsame Dinge gesagt, gar das Publikum beschimpft:

Dadurch, dass wir Sie beschimpfen, werden Sie uns nicht mehr zuhören, Sie werden uns anhören. Der Abstand zwischen uns wird nicht mehr unendlich sein. Dadurch, dass Sie beschimpft werden, wird Ihre Bewegungslosigkeit und Erstarrung endlich am Platz erscheinen. Wir werden aber nicht Sie beschimpfen, wir werden nun Schimpfwörter gebrauchen, die Sie gebrauchen. Wir werden uns in den Schimpfwörtern widersprechen. Wir werden niemanden meinen. Wir werden nur ein Klangbild bilden. Sie brauchen sich nicht betroffen zu fühlen. Weil Sie im voraus gewarnt sind, können Sie bei der Beschimpfung nicht abgeklärt sein. Weil schon das Duwort eine Beschimpfung darstellt, werden wir von du zu du sprechen können. Ihr seid das Thema unserer Beschimpfung. Ihr werdet uns anhören, ihr Glotzaugen.“

(Peter Handke, „Publikumsbeschimpfung“, Theaterstück, 1966)

Der Name ist Programm.

Seltsame Gestalten können auftreten:

Unter der wehmütig herabhängenden Krempe eines Filzhutes, dessen Alter, Farbe und Gestalt selbst dem schärfsten Denker einiges Kopfzerbrechen bereitet haben würde, blickte zwischen einem Wald von verworrenen, schwarzen Barthaaren eine Nase hervor, die von fast erschreckenden Ausmaßen war und jeder beliebigen Sonnenuhr als Schattenwerfer hätte dienen können. Infolge dieses gewaltigen Bartwuchses waren außer dem so verschwenderisch ausgestatteten Riechwerkzeug von den übrigen Gesichtsteilen nur die zwei kleinen, klugen Äuglein zu bemerken, die mit einer außerordentlichen Beweglichkeit begabt zu sein schienen und mit schalkhafter List auf mir ruhten.“

Karl May, „Winnetou Erster Band“, 1893, Auftritt: Sam Hawkens

ein Wald von Barthaaren: eingängliche Metapher

Es gibt eigenartige Gelehrte:

FAUST. Hab nun, ach, die Philosophei,

Medizin und Juristerei,

Und leider auch die Theologie

Durchaus studiert mit heißer Müh.

Da steh ich nun, ich armer Tor,

Und bin so klug, als wie zuvor.

Heiße Doktor und Professor gar,

Und ziehe schon an die zehen Jahr'

Herauf, herab und quer und krumm

Meine Schüler an der Nas' herum

Und seh, daß wir nichts wissen können,

Das will mir schier das Herz verbrennen.

Zwar bin ich gescheuter als alle die Laffen,

Doktors, Professors, Schreiber und Pfaffen,

Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel,

Fürcht mich weder vor Höll noch Teufel.

Dafür ist mir auch all Freud entrissen,

Bild mir nicht ein, was Rechts zu wissen,

Bild mir nicht ein, ich könnt was lehren,

Die Menschen zu bessern und zu bekehren;

Auch hab ich weder Gut noch Geld,

Noch Ehr und Herrlichkeit der Welt.

Es möcht kein Hund so länger leben!

Drum hab ich mich der Magie ergeben,

Ob mir durch Geistes Kraft und Mund

Nicht manch Geheimnis werde kund.


Johann Wolfgang Goethe. Urfaust: Faust in ursprünglicher Gestalt (German Edition) (S.1). Hofenberg. Kindle-Version.

Er hat nicht VIEL studiert, nach damaligen Möglichkeiten hat er ALLES studiert.


Ach ja, die Magier. Sorry, Harry Potter hatte keine Zeit. Der ist aber auch was für den Englischunterricht. Auch hier wieder: topographische Nomenklatur einer fremden Welt.

2. Vor sehr langer Zeit, als die Magier noch um Rang und Macht stritten, war ein Weg entstanden, der aus der Tronx-Kette hinausführte, den jedoch nur sehr wenige Personen kannten. Wa, die Höhlenmagierin, hatte diesen Gang geschaffen, der unbeirrbar einer bestimmten Gesteinsader folgte, unter Bergriesen hindurch, an den Ufern verborgener Flüsse entlang, durch Schluchten, in denen nicht einmal die Seelenlosen sich hatten ansiedeln wollen. Jarsynthia kannte diesen Weg nicht. Außer Koratzo wusste seit Was Tod nur noch ein Magier über diese Verbindung Bescheid. Das war Parlzassel, in dessen Bezirk der Pfad für eine kurze Strecke ins Freie führte.

Sydow, Marianne. Atlan 356: Die List der Magier: Atlan-Zyklus "König von Atlantis" (Atlan classics) (German Edition) (S.14). Perry Rhodan digital. Kindle-Version.

Sprechende Tiere kommen vor. In Fabeln – und Märchen.

Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. Rotkäppchen aber wußte nicht was das für ein böses Tier war und fürchtete sich nicht vor ihm. »Guten Tag, Rotkäppchen,« sprach er. »Schönen Dank, Wolf.« »Wohinaus so früh, Rotkäppchen?« »Zur Großmutter.« »Was trägst du unter der Schürze?« »Kuchen und Wein, gestern haben wir gebacken, da soll sich die kranke und schwache Großmutter etwas zu gute thun und sich damit stärken.«


Grimm, Gebrüder. Kinder- und Hausmärchen (German Edition) . Projekt Gutenberg-DE. Kindle-Version.

Und immer wieder Sachen, die es gar nicht gibt.

Dicht hinter den Schiffen der Imperium-Klasse wuchteten zwei andere Gebilde von gleichartiger Kugelgestalt in den Himmel. Wenn die Imperium-Raumer als sehr groß bezeichnet werden durften, so waren die beiden anderen Einheiten Überriesen. Ihre mächtigen Ringwülste, bestimmt zur Aufnahme der Triebwerke und gelegen in der genauen Äquatorebene der Kugelzellen, begannen in jener Höhe, wo die oberen Polkuppeln der Imperium-Schlachtschiffe endeten. Dies ließ eine recht genaue Schätzung zu. Es waren zwei Gebirge, die trotz der großen Entfernung nicht in voller Höhe überschaut werden konnten. Rhodan schloss die Augen, um sie danach weit aufzureißen. »Ich dachte, die Riesen der Imperium-Klasse wären Ihre stärksten Schiffe!«, bemerkte er stockend. »Thora, um Himmels willen – was ist das? Die beiden Giganten dürften etwa fünfzehnhundert Meter durchmessen! Wer hat die gebaut?7«

Scheer, K.H.. Perry Rhodan 39: Die Welt der drei Planeten: Perry Rhodan-Zyklus "Die Dritte Macht" (Perry Rhodan-Erstauflage) (German Edition) (S.65). Perry Rhodan digital. Kindle-Version.

Mit Scheers 1500 m durchmessenden Kugelraumschiffen aus den Sechzigern enden die Beispiele.

Nun also wieder zurück zum Literaturbegriff. Es wurde ein wenig gezeigt, was Literatur so kann. So ziemlich alles, möchte man sagen.

Was aber ist mit der Interpretation? Wiktionary sagt über das Interpretieren: „von lateinisch interpretari = auslegen, erklären“. Aha. Ein passivischer Infinitiv mit offenkundig aktivischer Bedeutung, ein Deponens also. Die hier einschlägige Bedeutung ist „den Sinn in dem, was beobachtet oder wahrgenommen wird, erschließen."

Warum ist ein solcher Interpretationsprozess notwendig? Kann der Autor nicht einfach sagen, was er sagen möchte? Warum drückt er sich so aus, dass man den Sinn seiner Worte erst suchen muss? Nun, darin liegt der Reiz der Literatur. Der gebildete Leser möchte zum Denken angeregt werden. Er möchte die Rätsel lösen, die der Autor ihm aufgibt. Und die Botschaft des Autors wird eindringlicher, wenn er sie im Rahmen eines fiktiven Textes präsentiert.

Die Gefahren eines GAU8 in einem Kernkraftwerk kann man mit Zahlen und Statistiken sowie Prognosen und Schätzungen anschaulich machen. Es wird aber alles viel anschaulicher, wenn man die Vorfälle nach einem solchen Ereignis aus der Sicht einer Teenagerin schildert. (Gudrun Pausewang, „Die Wolke“, Jugendroman von 1987)

Interpretation=

Beantwortung der Frage „Was will uns der Autor eigentlich sagen und wie macht er das?“

Die Frage nach dem „Wie?“ ist die Frage nach den Stilmitteln.

1Pschyrembel Klinisches Wörterbuch, das Buch über die Krankheiten schlechthin

2Bürgerliches Gesetzbuch von 1900

3Fiktiver Agent des FBI, erfunden von Delfried Kaufmann, Held zahlreicher Taschenbücher und Romanhefte, von denen letztere noch heute wöchentlich erscheinen

4Fiktiver Oberinspektor der Münchner Polizei, Fernsehkrimireihe von Herbert Reinecker in 281 Folgen (1974-1998)

5Ein Nerd ist jemand, der mit großer Hingabe ein Hobby betreibt, z.B. Science Fiction Literatur oder Science Fiction Filme

6frei erfundene

7Was möchte uns der Autor damit sagen? Scheer hatte das Ende des Zweiten Weltkriegs noch erlebt und er schrieb dies in den sechziger Jahren, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, Stichwort Kuba-Krise. Die Vorstellung waffenstarrender Raumschiffe mit kaum vorstellbarer Vernichtungskraft mag für den Autor und seine Leser in der Epoche globaler Abschreckung etwas Beruhigendes gehabt haben.

8Größter anzunehmender Unfall

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