Full Circle (Kurzgeschichte, deutsch)

 

Full Circle

von Dieter C. Domberg

Im Vergleich zu den Problemen, die viele andere Schüler bewegten und die sich vorwiegend um die Versetzung zu drehen pflegten, war jenes, welches Tawny an diesem Tag zu lösen hatte, ein sehr geringfügiges, und sie war sich dessen bewusst und dankbar dafür. Nichtsdestotrotz erforderte die Angelegenheit die volle Aufmerksamkeit der ehrgeizigen Fünfzehnjährigen. Ihr Deutschlehrer, Dr. Duisenberg hatte der Klasse zur nächsten Stunde eine bemerkenswerte Hausaufgabe gestellt, nämlich das Verfassen einer Kurzgeschichte. Im Kunstunterricht zeichne man ja auch pausenlos, also könne man im Deutschunterricht auch einmal eine literarische Leistung im Sinne von Kunst verlangen, hatte er doziert.

Ehrgeizig wie sie war, beabsichtigte Tawny, ein wahres Meisterwerk abzuliefern, zwar absolut ein Produkt der eigenen doch eher rein handwerklichen Schöpferkraft, aber doch befeuert von Ideen aus ihrer illustren intellektuellen Umgebung.

Professor Dr. Dr. Oliver Taldorf, seines Zeichens Mathematiker und Philosoph, dessen Lebenswerk außer den erwähnten Titeln einige vielzitierte Standardwerke und nebst anderen, aber älteren Nachkommen die bereits erwähnte Teenagerin umfasste, hatte gerade wieder einmal seine Vorlesung unter donnerndem akademischen Applaus beendet und den Studierenden einen Guten Appetit in der Mensa, wo es heute unter anderem Marinierte Hähnchenbrust mit Chili Jam, Asia Gemüse und Basmatireis gab, gewünscht, als er seine Tochter bemerkte, die gegen den Strom der hungrigen Studierenden Richtung Rednerpult strebte.

Soso, eine Kurzgeschichte.“ bemerkte Taldorf nach einer kurzen Erläuterung Tawnys. „Wie wäre es mit der alten Geschichte, in der der Mathematiklehrer nicht weiß, dass es auch  binomische Formeln 3. Ordnung gibt? Ist deinem Bruder damals wirklich passiert. Erst, als er mich um Rat gefragt hatte, konnte er den Lehrer überzeugen.“ „Das ist ein alter Hut, Dad.“ warf Tawny ein. Die Formel steht heute längst auf Schülerseiten. Sieh her:

(a + b)³ = a³ + 3a2b + 3ab² + b³
(a – b)³ = a³ – 3a2b + 3ab² – b³

ist allen bekannt. Auch die höheren Ordnungen werden berücksichtigt.“ Das Display des Mobiltelefons log nicht.

Was?“ staunte der Professor. „Nun, eine andere Idee habe ich spontan nicht. Vielleicht fragst du deine Mutter.

Prof. Dr. Julie Schulze, die nie Taldorf geheißen hatte, war eine begnadete Rechtsanwältin und hatte einen Lehrstuhl für Rechtsphilosophie inne. Zum Glück lehrte sie an der gleichen Uni wie ihr illustrer Ex-Gemahl. „Du solltest unbedingt über die Utopia von Thomas Morus schreiben.“ riet sie ihrer Tochter eindringlich. Ich habe dir doch immer aus dem Buch vorgelesen, als du noch nicht lesen konntest. „Also als ich drei war. Ja, mit drei Jahren war es bereits eine spannende Sache für mich.“ erinnerte sich Tawny. „Mit vier hatte ich das Lesen bereits erlernt und verschlang das gesammelte Comicwerk von Carl Barks.“ „Barks hat auch einige utopische Geschichten verfasst, die als Vorbild dienen könnten. Aber schreib doch einfach über einen Bürger von Utopia, den du erfindest. Du kannst ihn ja Caba nennen, nach Carl Barks. Das wird sich gut machen.“ „Ich werde  es mir überlegen, Mum. Zum Glück konsultierte1 Tawny anschließend noch ihren Großvater mütterlicherseits, einen pensionierten Förster. Albrecht Schulze, der alte Fuchs hatte einen perfekten Rat für sie auf Lager: „Schreibe einfach über deinen eigenen Alltag.“ So setzte sich Tawny gegen 18 Uhr an ihr Notebook und begann zu schreiben: „Im Vergleich zu den Problemen, die viele andere Schüler bewegten und die sich um die Gefahr des Sitzenbleibens drehten , war das, was  ich an diesem Tag zu lösen hatte, ein eher kleines, was ich auch wusste.“ ...

1Um Rat fragen


Vergangenheit, 12 Jahre früher

"Über all die Zeit zwischen den Stunden der Arbeit, des Schlafes und des Essens darf ein jeder nach seinem Belieben verfügen, nicht etwa um sie durch Schwelgerei und Trägheit schlecht auszunützen, sondern um die arbeitsfreie Zeit nach Herzenslust auf irgendeine andere Beschäftigung nutzbringend zu verwenden. Die meisten treiben in diesen Pausen literarische Studien. Es herrscht nämlich der Brauch, täglich in den frühen Morgenstunden öffentliche Vorlesungen zu halten; zu ihrem Besuche sind diejenigen verpflichtet, die zu wissenschaftlicher Arbeit namentlich ausgewählt sind. Aus jedem Stande aber strömt eine gewaltige Menge Hörer, Männer wie Frauen, zu den Vorlesungen, die einen zu diesen, die anderen zu jenen, je nach ihren persönlichen Neigungen."² 

Julie las mit Inbrunst und perfekter Intonation, während sie die nicht im mindesten angestaubte bibliophile Ausgabe des Klassikers wie einen kostbaren Schatz in den Händen hielt. Tawny seufzte. "Mum, warum nur ist es bei uns nicht so?" "Vielleicht wird es eines Tages so sein, mein Kind. Und alles andere auch." entgegnete Julie. "Nur das mit den Uniformen bitte nicht." ergänzte Tawny.


²Morus, Thomas. Utopia (German Edition) . Kindle-Version. 

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